Gemeinsame Erklärung: Mangelversorgung gefährdet Gesundheit
20.4.2023 Gemeinsame Erklärung
des Hausärzteverbandes Hessen (HÄVH)
des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ), Landesverband Hessen
der Berufsverbände der Fachärztinnen und Fachärzte in Hessen sowie
der Berufsverbände der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Hessen
Mangelversorgung gefährdet Gesundheit – Politik muss handeln!
Lebensnotwendige Medikamente sind ebenso knapp wie Termine bei Fachärzten und Psychotherapeuten, zudem fehlen Ärzte und Medizinische Fachangestellte. Insgesamt hat die Mangelversorgung inzwischen ein Ausmaß angenommen, das die ambulante wohnortnahe medizinische Versorgung der Patienten gefährdet. Mit Blick darauf fordern der Hausärzteverband Hessen (HÄVH), der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen (BVKJ) sowie die Berufsverbände der hessischen Fachärzte und Psychotherapeuten an ihrem sechsten Protesttag am 26. April die Politik zum Handeln auf.
Viele Medikamente seit Monaten nicht verfügbar
Die medizinische Versorgung der Patienten wird seit einigen Jahren durch zunehmende Lieferengpässe bei Medikamenten gefährdet. Waren es vor einigen Jahren noch eher seltener verordnete Präparate, fehlen mittlerweile selbst grundlegende Medikamente von hoher Wichtigkeit. So ist seit Monaten kein Penicillin, das Mittel der ersten Wahl zum Beispiel bei Scharlach, aber auch bei Mandelvereiterungen und bestimmten Hautinfektionen, mehr zu erhalten. Statt dieses gezielt wirksamen Präparates muss auf Breitspektrum-Antibiotika ausgewichen werden, die neben einer erhöhten Resistenzquote ein höheres Nebenwirkungspotential besitzen.
Ebenso sind zum Beispiel seit Monaten einige Herzmedikamente, aber auch Antiepileptika nicht mehr verfügbar. Auch hier kann eine Umstellung auf andere Medikamente negative Folgen für die Patienten haben. Fast täglich rufen inzwischen verzweifelte Apotheken- Mitarbeiter in unseren Praxen an, um mit uns Ärzten Umstellungen auf derzeit lieferbare Präparate zu erörtern. Täglich erscheinen in den Praxen auch Patienten mit dem Wunsch nach einer Rezeptänderung wegen nicht lieferbarer Präparate. Hier werden kostbare Arbeitszeit-Ressourcen hochqualifizierter Akteure im Gesundheitssystem der verfehlten Sparpolitik im Medikamentenbereich geopfert.
Auch Kindermedikamente betroffen
Auch viele spezifische Kindermedikamente sind schlecht oder gar nicht verfügbar. Es begann mit Fiebersäften. Paracetamol und Ibuprofen waren wochenlang nicht erhältlich und sind als Saft immer noch kaum zu haben. Auch fehlt es an Standard-Antibiotikasäften. Amoxicillin ist seit Monaten nicht verfügbar, ebenso Cefaclor. Trotz kritischer Indikationsstellung ist bei Kindern manchmal ein Antibiotikum notwendig, um Komplikationen zu verhindern. Wir weichen seit Monaten auf Reserveantibiotika aus, was in der Regel mit der Apotheke zu besprechen ist, damit man weiß, was man überhaupt rezeptieren kann.
Selbst die Reserveantibiotika sind jetzt knapp. Deshalb stehen wir jetzt oft vor der Wahl, die Kinder zur intravenösen Therapie in ein Krankenhaus einzuweisen oder zu versuchen, sie mit Tabletten zu therapieren. Aber versuchen Sie mal einem dreijährigen Kleinkind eine halbe Tablette Amoxicillin einzuflößen, und das dreimal täglich für sieben Tage! Eine Besserung der Lage ist nicht in Sicht, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis hier Kinder zu Schaden kommen und sich Juristen ansehen, wer verantwortlich ist.Fehlende Zulassungen
Auch heute noch gibt es Medikamente, die seit Jahrzehnten in der Kinderheilkunde angewendet werden, für die also eine lange Erfahrung zu Einsatzmöglichkeiten und Sicherheit besteht, die aber immer noch gar keine formale Zulassung für Kinder haben. Formal dürften diese Medikamente zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung gar nicht verordnet werden, sie gelten eigentlich als Off-Label Use, für die die Krankenkassen nicht aufkommen müssen. Bisher wurde das bei Kindern jedoch geduldet, jetzt gibt es aber die ersten Regresse.
Wirkstoffe werden in Billiglohnländern produziert
Für ein Land, das sich einmal als „Apotheke der Welt“ bezeichnet hat und in dem derartige Lieferprobleme früher gänzlich unbekannt waren, ist es ein Armutszeugnis, dass die hiesige Pharmaindustrie fast keine Medikamente mehr in Deutschland herstellt. Stattdessen werden die Wirkstoffe unter kaum nachprüfbaren Herstellungsbedingungen zu möglichst geringen Kosten in Billiglohnländern produziert und um die halbe Welt geschickt. Es wurden bereits Medikamente in Deutschland vom Markt zurückgerufen, weil sich in der gelieferten Ware herstellungsbedingte Verunreinigungen gezeigt hatten.
Wir verlangen, dass seitens der Politik die Bedingungen für die Pharmaindustrie wieder so gestaltet werden, dass die früher stets übliche Herstellung der Medikamente in Europa wieder möglich ist und auch erfolgt, so dass eine regelmäßige Belieferung der Apotheken mit den für die Patientenversorgung erforderlichen Präparaten gesichert ist.
Die Krankenkassen profitieren als einzige von den Einsparungen im Medikamentenbereich. Mit Blick darauf fordern wir, dass die Krankenkassen – die meist schnell dabei sind, Ärzte für angebliche „Fehlverordnungen“ in Regress zu nehmen – den Ärzten und Apothekern die durch die Sparpolitik entstehende Mehrarbeit ersetzen.
Fehlende Psychotherapeuten- und Arzttermine
Es wird seit Jahren immer schwieriger, Psychotherapeuten- oder Facharzttermine zu bekommen. So ist eine mehrmonatige Wartezeit auf Psychotherapie-Plätze mittlerweile trauriger Standard. Einige Facharztgruppen können ebenfalls nicht mehr in einer auch nur halbwegs akzeptablen Zeit aufgesucht werden. Hier ist von einem „ausreichenden, zweckmäßigen“ Angebot nicht mehr zu sprechen.
Man hätte angesichts einer bekanntermaßen alternden Gesellschaft – mit der logischen Konsequenz einer höheren Gesamtmorbidität der Bevölkerung – erwarten können, dass rechtzeitig die Ressourcen im Gesundheitssystem erhöht würden. Stattdessen wurde die Zahl der Medizinstudienplätze in den vergangenen 30 Jahren um etwa 30 % reduziert. (1990: ca. 16.000 p. a., aktuell ca. 11.000 p. a.).
Unabhängig davon sind durch die Feminisierung der Medizin, aber auch durch eine generell andere Lebensplanung der jüngeren Generation veränderte Arbeitszeitmodelle gefragt, bei denen eine 60 Stunden-Arbeitswoche nicht mehr zum üblichen Arbeitsleben gehört. Bei der Abgabe einer Arztpraxis ersetzen daher heute oft zwei Kollegen einen Praxisvorgänger. Obwohl die Ärzteschaft seit vielen Jahren auf die Folgen des mit 100%iger Sicherheit eintretenden Ärztemangels hingewiesen hat, hat die Politik dieses Problem einfach ignoriert und von einer angeblichen Ärzteschwemme fabuliert.
Ärztemangel war lange absehbar
In den kommenden Jahren werden beispielsweise 50 % aller hessischen Hausärzte in Rente gehen. Die freiwerdenden Praxen werden nicht annähernd durch junge Kollegen übernommen werden können. Die Ausbildung eines Arztes vom Beginn des Medizinstudiums bis zum Abschluss der Facharztausbildung dauert mindestens elf Jahre, de facto meist zwölf bis 15 Jahre. Das Schaffen einer großen Menge neuer Medizinstudienplätze kann also für die Patientenversorgung erst in vielen Jahren nutzbringend werden. Umso wichtiger wäre eine Reaktion seitens der Politik.
Es ist absurd, den Ärztemangel z. B. in sozialen Brennpunkten durch minderqualifizierte Kräfte in „Gesundheitskiosken“ ausgleichen zu wollen. Alle Menschen haben unabhängig von ihrem sozialen Stand den gleichen Anspruch auf eine medizinische Versorgung auf Facharzt- Niveau.
Fehlende Mitarbeiter
Die Arbeitsbedingungen für die medizinischen Fachangestellten (MFA) in Arztpraxen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten aus diversen Gründen massiv verschlechtert. Dieser wichtige Beruf erfordert eine immer höhere Stress-Resilienz und fachliche Kompetenz bei einem beklagenswert niedrigem Gehaltsniveau. Die niedrigen Umsätze der Arztpraxen ermöglichen jedoch keine deutliche Erhöhung dieser Gehälter. Viele MFA sind daher nicht mehr bereit, diesen Beruf auf Dauer auszuüben. Sie orientieren sich in andere Berufsfelder um. Schon jetzt ist es fast unmöglich, freiwerdende MFA-Stellen zu besetzen, was mittlerweile sogar zu Schließungen von Arztpraxen geführt hat.